Dissonance

Grammont Sélection 3

Werke von Nicolas Bolens, Arturo Corrales, Franz Furrer-Münch, Daniel Zea Gómez, Francesco Hoch, Pierre Mariétan, John Menoud, Laurent Mettraux, Benoît Moreau, Michael Pelzel, Urs Peter Schneider, Ludovic Thirvaudey.

Ensemble Vortex, Compagnie CH.AU, Nouvel Ensemble Contemporain, basel sinfonietta, ensemble æquator, Quatuor Gémeaux u.a.

Musiques Suisses/Grammont Portrait MGB CTS-M 125 (2 CD)

Tobias Rothfahl

 

 

Cover Grammont Sélection 3

 

Eine Tour de Romandie bietet die dritte Edition der «Grammont Sélection» mit einer von Jean Nicole kuratierten Auswahl wichtiger Uraufführungen des Jahres 2009 – eine Tour allerdings,  der die Höflichkeitsbesuche im Tessin und in der Deutschschweiz keineswegs abgehen und die nicht nur auf die Komponistenszene einen austarierten Blick wirft, sondern auch auf die  Interpretenlandschaft. Mehrere teils aufstrebende, teils schon etablierte Ensembles aus der Romandie werden vorgestellt: Das Ensemble Vortex, die Compagnie CH.AU oder das Nouvel  Ensemble Contemporain (NEC). Darüber hinaus äussert Jean Nicole, ehemaliger Produzent bei RSR2, im Booklet die Vermutung, dass das historische Modell des Interpreten-Komponisten, die «Wechselwirkung von geistiger Auseinandersetzung mit Musik und deren handwerklicher Umsetzung» in jüngster Zeit wieder verstärkt zu Relevanz finde. Hinzufügen liesse sich anhand dieser Sélection, dass auch in der improvisatorischen oder elektronischen Musik verwurzelte Strategien zunehmend in die hergebrachte Komposition Einzug halten. Mehrere Werke dieser  Doppel-CD stärken Nicoles These, etwa Cappricco II von Ludovic Thirvaudey (geb. 1980), ein zwischen Ensemblevirtuosität und Klangfarbenerkundung pendelndes Werk, von der Compagnie  CH.AU (der der Komponist selbst angehört) herausragend eingespielt. Auch Arturo Corrales’ (geb. 1973) verrätselte Hommage Re für Ensemble, interpretiert vom Ensemble Vortex (einer Formation, die sich explizit als Kollektiv von Interpreten und Komponisten versteht und der auch Corrales selbst angehört), ist Beleg für Nicoles These. Zwei weitere Komponisten  dieses Kollektivs sind ebenfalls vertreten: Der bereits über eine eingeschliffene Sprache verfügende John Menoud (geb. 1976) mit aDORAtion für Ensemble (in einer Aufnahme mit dem NEC) und Daniel Zea Gómez (geb. 1976) mit Cambuche für Vierspur-Tonband, einem konzisen Stück, das in der dreidimensionalen Live-Situation noch stärker wirken könnte.  Bemerkenswert gut gelang es hingegen in Urs Peter Schneiders (geb. 1939) Dies III. Neunstimmige Musik für 6x9 Individuen, die räumliche Dimension auf den Silberling zu bannen ( Dies III war mehrfach Thema in der dissonance, vgl. die Ausgaben 107, S. 39, und 108, S. 48).

 

In der Tradition motorisch ablaufender Bewegungstypen des Barocks entwickelt Benoît Moreau in  Continuums für Blockflöten und Schlagzeug eine Klangsprache, die frei nach Ernst Bloch und Klaus Huber im besten Sinn das «Unausgehobene im Vergangenen» entdeckt und sich  anverwandelt. In anderer Weise Verankerung in der Tradition findet Francesco Hoch (geb. 1943) mit seinem von expressionistischen Ausdruckswelten geprägten Klaviertrio Ischia; oder Laurent Mettraux (geb. 1976), der in Stèles, fünf kurzen Klavierstücken nach Gedichten von Victor Segalen, einen souveränen Umgang mit historisch erprobten Satztypen pflegt. Mit  Kleinstpartikeln arbeitet Michael Pelzel (geb. 1978) in Piano Operation für Stimme, Oboe, Cello und Klavier (ensemble æquator), die ein linear verlaufendes Konzept mit einer undomestizierten Brüchigkeit verquickt. Durchaus dem Prinzip motivisch-thematischer Entwicklung verpflichtet sieht sich Nicolas Bolens (geb. 1963) in seinem Streichquartett Tempus fugit, das im deutschen Quatuor Gémeaux wunderbare Interpreten fand. Für weitere Höhepunkte dieser Sélection sorgen Franz Furrer-Münchs (1924–2010) Blockflötenkonzert Entfalten –  Verweilen, eines der letzten Werke des im vergangenen Jahr verstorbenen Komponisten, und Pierre Mariétans Fragments scéniques (Part I), aus denen – selten genug auf dieser CD – eine  Portion trocken-herzlichen Humors spricht.

 

Hoffentlich unaufhaltsam zur Tradition wird mit dem Projekt «Grammont Sélection» eines der wenigen Gefässe, in dem ein nicht konzeptuell abgesichterter und entsprechend heterogener Querschnitt durch das hiesige Schaffen möglich ist. Diese Heterogenität ist nicht nur repräsentativ, sie gesammelt zu präsentieren ist im Grunde auch imperativ. Bewährt hat sich nicht zuletzt das Modell, die Werkwahl an einen CD-Kurator zu delegieren (vor Jean Nicole waren Thomas Gartmann und Michael Kunkel für je eine Edition verantwortlich, die kommende Sélection 4 wird  Mark Sattler gestalten): Würde die Auswahl von einem grösseren Gremium getroffen, hätten es jene Werke schwerer, die nicht dezidiert mehrheitsfähig sind, zudem dürfte die  programmatische Konsistenz der CDs leiden. Hilfreich wären allerdings editorische Verbesserungen wie die Angabe der Entstehungsjahre, die halt nicht immer mit dem Uraufführungsjahr zusammenfallen. Allzu viele solcher Informationen hätten allerdings den Versuch, das bereits 44-seitige Booklet aus dem «Case» herauszuziehen, wohl in dessen Zerstörung umschlagen lassen.

 

Dieser Artikel ist in DISSONANCE 113 (März 2011) erschienen.

Heft bestellen


by moxi