«C'est dans le temporel que gít le hic» – Michael Kunkel s'entretient avec Lukas Langlotz

Né à Bâle en 1971, le compositeur Lukas Langlotz est fortement attiré par le doute et les paradoxes exprimés dans le livre biblique de l'Ecclésiaste, qu'il reflète dans son Windspiel (1998-2000). Ses différents formes d'écriture sont-elles une tentative de «saisir le vent»? Dans ses œuvres et dans la conversation, Langlotz exprime un scepticisme décontracté vis-à-vis des transparences tant historiques que structurelles.


«IM ZEITLICHEN LIEGT DER HUND BEGRABEN!»

Michael Kunkel im Gespräch mit Lukas Langlotz; Basel, 28. September 2002.
 
Michael Kunkel: Lukas Langlotz, warum reden und schreiben viele Komponisten so gerne über ihr Tun?

Lukas Langlotz: Vielleicht im Sinn einer Autoreflexion. Man kann in Selbstanalyse erfahren, mit welcher Technik man was realisiert hat. Man kann versuchen, sich selbst zu orten und sich in der eigenen Entwicklung zurecht zu finden. Auf diese Weise kommen auch Ideen für neue Stücke. Es kann anregend und inspirierend sein, wenn man auf der Suche ist. Es gibt aber auch einen unter Komponisten verbreiteten Zwang, unbedingt etwas sagen zu müssen. In Darmstadt habe ich erlebt, wie das dann meistens etwas schief rauskam. Ich selbst mache es eigentlich nicht so gerne. Wenn ein Stück fertig ist, kann ich mir kaum vorstellen, es mir noch einmal vorzunehmen, um darüber zu sprechen. Die Entstehung eines Stückes ist ein ausgesprochen komplexer Vorgang. Innerhalb des Arbeitsprozesses geht sehr viel vor. Zwischen «streng rational» und «diffus irrational» liegt alles drin. Das ist im nachhinein schwer fassbar. Während ich schreibe, bin ich immer auf der Suche. Wenn das abgeschlossen ist, bin ich froh, dass etwas draussen ist.
 
Würdest du Paul Celan zustimmen, der sagte, nach Abschluss des Werks sei der Autor aus der Mitwisserschaft entlassen?

Das kann man so sagen. Ich finde es eigentlich viel spannender, mich mit Kollegen über ein neues Werk auszutauschen. Oder mit Musikern, die es spielen. Während ich an einem Stück schreibe, ergeben sich übrigens auch Anstösse, Perspektiven auf noch zu schreibende Musik. Man entdeckt schreibend meistens neue Dinge, die es auszuarbeiten gilt. Das ist bei mir ein fast spielerischer Vorgang. Ich wollte keinen Vortrag darüber halten. Helmut Lachenmann sagte mir einmal, ich solle meine eigenen Stücke analysieren. Und zweifellos könnte ich viel daraus lernen. Aber ich verspüre kein spontanes Bedürfnis danach.
 
Wenn die beliebte Frage gestellt wird: «Welche Musik mögen Sie», lautet die gängige Antwort: «Gute Musik». Was sind die Kennzeichen von «guter Musik»?

Ich mag auch «schlechte Musik»! Das, was man landläufig als solche bezeichnet. Billige U-Musik oder Supermarkt-Konserven haben durchaus etwas, das mich rührt. Ich finde es nicht interessant, nur eine Richtung zu verfolgen. Die mögliche Klangfülle ist dafür einfach zu gross. Vom musikalischen Abfallprodukt bis zur Spitze des Elfenbeinturms: Da kann alles spannend sein! Gerade musikalischer Abfall hat auf mich eine gewisse poetische Wirkung. Ich beschäftige mich nicht gross damit, lehne es aber auch nicht ab. «Gute Musik» ist für mich Musik, mit der ich mich immer beschäftigen könnte. Mehrschichtige Musik, die auf vielen Ebenen des Ausdrucks spielt und die ich von sehr verschiedenen Standpunkten aus betrachten kann. Und die dabei immer Geheimnisse bereit hält. Wie ein gutes Gedicht. Dicht eben. Ich könnte dafür allerdings keine bestimmten ästhetischen Kriterien angeben.
 
Was hat dich dazu bewogen, einen sehr beträchtlichen Teil deiner Lebenszeit und -energie auf das Komponieren zu verwenden?

An mir gibt es eine triebhafte Seite. Ich muss Eigenes produzieren. Irgendwann einmal stellte sich heraus, dass das Musik sein soll. Sobald ich als Kind mit einem Musikinstrument in Kontakt kam, begann ich sofort, für es zu schreiben. Die Ausprägung dieses Triebs war allerdings schwankend. Während meines Dirigier- und Klavierstudiums etwa habe ich schon aus Zeitgründen weniger komponiert. Am Komponieren fasziniert mich sehr vieles. Einerseits ist es die Erforschung meiner selbst und wie ich mich formuliere, nach aussen trage. Und sobald ich etwas in Noten chiffriert habe, entsteht ein eigenes System, das nicht mehr in mir ist. Das ist eine Ebene, die sich von meiner eigenen Subjektivität emanzipiert. Der ganze Prozess des Formulierens und Notierens bringt mit sich, das etwas entsteht, das mit der ursprünglichen Idee vielleicht sogar nichts mehr zu tun hat.
 
Komponier-Arbeit gilt vielen als Inbegriff der Vereinzelung, die in Kauf genommen wird, um einem stark individuellen Ausdrucksbedürfnis nachzukommen. Bist du beim Schreiben tatsächlich mit dir allein?

Grundsätzlich schon. Doch ich kommuniziere schreibend mit vielen «Gegenübers». Das betrifft historische Zusammenhänge genau so wie bestimmte Instrumente oder Musiker, für die ich schreibe. Aber der Ausgangspunkt für ein Stück ist immer in einem drin. Und den gilt es freizulegen und zu erforschen. Und im Zuge des Erforschens stellen sich Kontakte her. In einem neuen Stück versuche ich, einen «Klang» zu konkretisieren. «Klang» ist dabei wie jene Masse, die Steinhauer bearbeiten. Ich gehe auch oft ex negativo vor. Ich schliesse Möglichkeiten aus und schlage alles ab, was nicht sein soll. So entsteht Form.
 
Wolfgang Rihm schreibt: «Ich habe die Vorstellung eines grossen Musikblocks, der in mir ist. Jede Komposition ist zugleich ein Teil von ihm als auch eine in ihn gemeisselte Physiognomie. Dieser Block ist einer starken Erosion ausgesetzt. Der Spalt- und Modelliervorgang, der Bild und Negativbild hervorbringt, ist der kompositorische Akt: ein Faden aus Zeit.»

Ein sehr schönes Bild. Das ist mir sehr nahe. Doch was ich da eigentlich mache, kann ich nur sehr schwer beschreiben oder systematisieren. Anders als Komponisten, die einer sehr klaren Konzeption ohne Umschweife folgen.
 
Nun bist du nicht nur Komponist, sondern auch Pianist und Dirigent. Inwiefern wirkt sich deine Tätigkeit als Interpret aufs Komponieren aus?

Ich versuche, diese Tätigkeiten ziemlich zu trennen. Ich wollte sogar einmal mein Dirigierstudium um des Komponierens willen aufgeben, weil ich beides nicht zusammen bringen konnte. Ich konnte nicht gleichzeitig Partituren studieren und meine eigene Welt bauen. Jetzt bin ich da weiter und kann beides ausüben. Eine ganz saubere Trennung kann es natürlich nicht geben. Das Repertoire bereichert einen, und als Pianist habe ich das Glück, ganz praktische Erfahrungen zu machen, die mir beim Komponieren sehr nützlich sind. Man ist ganz nahe am Klang dran! Wahrscheinlich komponiere ich deshalb weniger schreibtischmässig als «Nur-Komponisten». Doch ich habe fast noch nie ein Stück von mir selbst dirigiert. Wenn ich das einmal tun würde, dann aus einer ganz anderen Position als jener des Autors – der ja ohnedies aus der Mitwisserschaft entlassen wurde. Die Distanz des Interpreten wäre dann entscheidend. Die vollkommene Einheit von Komponist und Interpret wäre mir zu egomanisch. Ich mag es, mein Werk zu entlassen und zu beobachten, wie andere Interpreten Dinge entdecken, die mir nie auffallen würden.
 
Du hast bei Rudolf Kelterborn studiert. Man sagt, Kelterborn vermittle seinen Schülern ein solides Handwerk. Was bedeutet das? Was ist es dir wert?

Dieses Klischee über den «Handwerker» Kelterborn ist sehr einseitig, oft auch abschätzig gemeint: Er sei eben «nur» Handwerker. Das stimmt überhaupt nicht! Allein die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit hat etwas von einem Universalgeist. Technik und Ausdruck bilden bei ihm eine natürliche Einheit. Sein avanciertes Musikdenken liesse eine banale Gleichung wie «Musik = Handwerk + Geist» niemals zu! Ein dergestalt eingebundenes Handwerk ist für mich etwas ganz wichtiges. Man muss zunächst einmal wissen, wie man für ein bestimmtes Instrument überhaupt schreiben oder wie man mit musikalischer Zeit umgehen kann. Besonders letzteres stand im Zentrum des Unterrichts bei Kelterborn. Und zwar nicht nur im rechnerischen Sinn. Es ging vor allem darum, ein Gespür für Zeitverhältnisse zu entwickeln. Es ist auch wichtig, eine Partitur so zu notieren, dass sie vom Interpreten wirklich gelesen werden kann. In diesen Fragen war Kelterborn sehr streng. Er hat zudem ein äusserst hohes Niveau von Tonsatz vermittelt, da seine Vorstellungen immer in einem historischen Kontext stehen. Handwerk ist bei Kelterborn sehr viel mehr als blosse Routine. Es geht um die Mittel, eine musikalische Idee so gut wie möglich zu formulieren.
 
Viele deiner früheren Stücke erscheinen wie ein unablässiges Ausbalancieren gestischer Extrema, wobei ein Mittelwert meistens imaginär bleibt und selten ins Zentrum rückt.

Die gestischen Extrema haben mich damals sehr interessiert. Ich glaube, ich war damals selber so. Das habe ich nicht bewusst angestrebt. Es war der direkte Ausdruck meiner Befindlichkeit. Wobei mir ein Stück wie Riss keineswegs leicht aus der Hand geflossen ist. Es ist ein Stück, das weit weg liegt, aber das ich immer noch mag. Ich habe es mir in einer persönlichen Krise einfach vom Leib geschrieben. Fast «romantisch». Das habe ich später nie wieder erlebt.
 
Deine frühen Kompositionen bewegen sich noch innerhalb der Charakter-Kategorien der avancierten Nachkriegs-Musik. Allein Titel wie «Riss», «Illusion», «Zersplittert» künden davon. Wie wichtig ist es für dich, von der «Neuen Musik» wegzukommen?

Das ist mir sehr wichtig! Gleichzeitig war es mir sehr wichtig, mich damit intensiv auseinander zu setzen. Irgendwann einmal habe ich ja noch an die «Neue Musik» geglaubt. Doch schon meine frühen Stücke besitzen vielleicht Keime, die weiterführen. Spätestens als ich 1998 in Darmstadt war, habe ich begriffen, dass es nicht wichtig ist, «neue» Musik zu schreiben, sondern eine Musik, die etwas essentielles mit mir macht und die irritiert, seltsam berührt. Das kann man mit den alten Klischees der sogenannt «Neuen Musik», den einschlägigen Geräuschen und Quart-Tritonus-Gruppen, einfach nicht mehr leisten. Früher habe auch ich Gebrauch gemacht von einer bestimmten Art von Zwölftonmelodik und von entwickelnden Formen, wie man sie vom 19. Jahrhundert her kennt. Doch ich habe vor allem das Material der «Neuen Musik» nicht einfach verstossen, sondern andere Arten erkundet, mich damit in der Zeit zu bewegen. Im Zeitlichen liegt der Hund begraben! Dazu gehört auch, eine gewisse Kontrolle aus der Hand zu geben und als Komponist etwas zurück zu treten. Ich sage mir nun: Die Zeit gehört nicht allein dir!
 
Du möchtest also nicht nur herausfinden, was du mit der Zeit anstellen kannst, sondern auch, was sie mit dir «macht»?

Ja. Daher meine Beschäftigung mit nicht-diskursiven Formen. Die musikalische Zeit muss sich nicht immer «logisch» fortentwickeln. In Windspiel gibt es deshalb Klanglöcher, die jede lineare Entwicklung aufheben. Es ist eine Zeiterfahrung, wie wir sie aus Träumen kennen.
 
Du hast bisher vor allem instrumentale Kammermusik komponiert. Gesang im üblichen Sinn kommt beidir sehr selten vor. Wenn du für Singstimme schreibst, dann auf eine eher instrumentale Art. Hat Wolfgang Rihm Recht, wenn er sagt, man könne heute eigentlich nicht mehr für Singstimme komponieren?

Keine Ahnung. Solche absoluten Statements sind für mich immer ein wenig problematisch. Rihm schliesst wieder mal allzu rasch von sich selbst auf alle anderen. Ich kann momentan nicht für Stimme schreiben. Als Interpret habe ich einen Schlupfwinkel, in dem Schubert und sonstige Gesänge begleitend geniessen kann. Aber das ist für mich nicht mit Nostalgie verbunden. Wenn ich plötzlich das Bedürfnis hätte, «echten» Gesang zu schreiben, würde ich das natürlich machen. In Windspiel habe ich auch verschiedene Weisen, mit Singstimme umzugehen, ausgelotet. Das ist eine sehr reduktive Weise, für Stimme zu schreiben: Ohne Melismen, im kleinen Ambitus, keineswegs «Ausdrucksgesang». Ich wollte etwas realisieren, was mich an der alten Musik fasziniert. Aber momentan schreibe ich nicht für Singstimme, weil ich gar nicht genau wüsste, wie. Es gibt bei mir Berührungsängste, weil die Singstimme eine so überaus persönliche Klangquelle ist. In Rappresentazione habe ich mich nicht im geringsten darum gekümmert, wer singt, sondern für Bariton komponiert, wie für irgendein Instrument. Der Text ist völlig abstrakt und besteht aus Zahlwörtern, die ich als vokales Einschwingmaterial montiert habe. Natürlich lässt sich auch hier eine gewisse semantische Richtung kaum vermeiden. Doch die Begegnung von Ton und Wort ist vollkommen zufällig.
 
Deine Kompositionen «Hevel» und «Windspiel» resultieren aus der Beschäftigung mit dem alttestamentarischen Buch «Kohelet». Was waren deine Gründe, mit diesem Text zu arbeiten?

Meine Beschäftigung mit biblischen Texten war früher stark von der Institution Kirche geprägt. Irgendwann bin ich ausgebrochen und wollte lange nichts mehr davon wissen. Bis ich in Kamerun «Kirche» in einem ganz anderen Umfeld erfahren habe: Die Kirche ist dort gesellschaftlich überhaupt nicht etabliert oder akzeptiert, sondern besitzt eine fast anarchistische Kraft, die sich gegen das Regime formiert. Dort habe ich einen Pfarrer kennen gelernt, der «Kohelet» wie einen Revolutionstext vorgetragen hat. Ich habe es dann in der eigenartigen Buberschen Übertragung gelesen, um möglichst nahe an das hebräische Original zu kommen. Das Buch hat mich direkt angesprochen, weil es den Zweifel thematisiert. Es ist keineswegs bloss pessimistisch, sondern führt Gedanken auf eine faszinierende Art ad absurdum. Nichts ist eindeutig.
 
«Alles ist eitel» und «Haschen nach Wind». Wie versuchst du, die Aporien in «Windspiel» und «Hevel» fruchtbar zu machen?

Es ist für mich unmöglich, dieses Buch zu vertonen. Es thematisiert, was mich sowohl als Mensch als auch in der Musik interessiert: Offenheit, Mehrdeutigkeit, ungerichtete Zeit. Das alles wird in der Komposition fruchtbar.
 
Entsprechend unterscheidet sich die Formsprache von «Windspiel» und «Hevel» erheblich von den Konfliktformen deiner früheren Musik. Mir scheint, als würde ungefähr seit «Vacua» ein narratives oder diskursives Moment zugunsten einer eher losen, schwebenden Konzeption weitgehend aufgehoben, die auf kausale Orientierungsformen verzichtet.

Zweifellos. Das Buch kam genau zur richtigen Zeit. In älteren Stücken setze ich kausale Entwicklungen in Gang, um an einem ganz bestimmten Ort anzukommen. Ganz funktional. Das ist vorbei.
 
Welche Vorstellung tritt an Stelle der mehr oder weniger kausalen Zusammenhänge? Gibt es noch eine musikalische «Syntax»?

Die Mittel der Notation ändern sich kaum. Vielleicht müsste man sie aufgeben. Aber das will ich nicht.Ich will auch nicht Denkkategorien wie Form oder Tonsatz aufgeben. Die Musik hat eine Syntax und «funktioniert» also, aber ich kann dir nicht genau sagen, wie. Wenn ich das wüsste, würde ich es wahrscheinlich nicht mehr machen.
 
Hans-Joachim Hespos meint, man könne Musik überhaupt nicht notieren. Stimmt das?

Es ist doppelbödig. Einerseits kann ich die Komplexität, die ich mir vorstelle, nie genau aufs Papier bringen. Andererseits bietet die Notation dem Interpreten die Möglichkeit, diese Musik in Räume zu tragen, die ich mir nie hätte vorstellen können. Die interpretatorische Rückübersetzung meiner Musik ist ein Element, mit dem ich als Komponist durchaus rechne. Die intelligente Interpretation meines Notats ist eine Bereicherung für meine Komposition. Zudem können die Notentexte verschieden gelesen werden. Nur Musik, die immer neu gelesen wird, kann lebendig bleiben. Deswegen gibt es ja durchaus alte Musik «von heute». Wenn ich das nicht wollte, müsste ich etwas anderes tun. Improvisieren zum Beispiel.
 
«Windspiel» und «IN» enden in der Preisgabe einer genauen Koordination von Einzelstimmen. Ist das ein Zeichen gescheiterter Kommunikation? Oder die Befreiung aus dem Zeitkorsett herkömmlicher Notationsweise?

Das zweite. Zudem ändert sich die Spielhaltung, wenn das übergeordnete Zeitkorsett wegfällt. Auch die räumliche Verteilung der Interpreten hängt damit zusammen. Die Einzelstimmen sind jeweils ganz genau ausnotiert. Indem ich Solo-Stimmen, die aufeinander in einem grösseren Rahmen bezogen sind, loslasse, ziehe ich mich auch als Komponist zurück.
 
Deine Komposition «IN» ist als «Ritual» bezeichnet, «Rappresentazione» beginnt «mit ritueller Strenge». Welche Rolle spielt «Rituelles» in deiner Musik?
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Das ist etwas, das mich sehr anzieht. In diesem Sinn wäre Windspiel vielleicht sogar religiöse Musik. Mich fasziniert, wenn die Interpreten sich einer rituellen Strenge unterordnen müssen. Bei Rappresentazione und Rad aus Windspiel ist es ein Ritual des Abmessens einer Zeit, die von aussen gegeben ist. Das wirkt sich auch auf meine Schreibhaltung aus: Ich bringe nicht mehr zu Papier, was mich gerade beschäftigt. Während ich an Rad komponierte, ging ich wie ein Mönch zum Stundengebet. Das Komponieren selbst wird dann zu einer rituellen Handlung. Ich unterwerfe mich als Schreibender einem abstrakten Regulativ, das ausser mir steht. Der spontane Ausdruck ist gebannt.
 
Haben die Erfahrungen mit elektronischer Klangerzeugung deine Schreibweise beeinflusst?

Ich glaube schon. Ich wollte den Klang näher erforschen, Innenansichten gewinnen. In Illusion war das musikalische Material noch verfügbar insofern, als ich es unhinterfragt anordnen konnte. In Windspiel dagegen verfolge ich die Entwicklung von klanglichen Details sehr genau. Das kommt schon daher. Aber nicht immer. In Rappresentazione sind es einfach wieder Tonhöhen und Rhythmen. Wie in einem strengen Formmodell aus der alten Musik. So gewinnt die Musik eine objekthafte Qualität, als etwas, das ausserhalb meiner steht und von mir lediglich dargestellt wird – deshalb der Titel. Diese statische Ordnung von Zeit ist etwas, das mich an Weberns Saxophon-Quartett op. 22 sehr interessiert. Der erste Satz ist wie eine Glaskugel, in der sich jede individuelle oder sonstwie gerichtete Perspektive bricht.
 
Manchmal verteilst du deine Interpreten in ungewöhnlicher Art im Raum. Besitzt die Veränderung der herkömmlichen Spielsituation auch eine szenische Relevanz? Ist es wichtig, den Interpreten deiner Musik beim Spiel zuzusehen? Oder soll man lieber mit geschlossenen Augen lauschen?

Ans Zuschauen denke ich eigentlich nicht. Ich höre meine Musik selbst lieber mit Kopfhörern an. Sehr schön wäre eine ausgefeilte Studio-Aufnahme von Windspiel. Bei den räumlichen Aufstellungen spielt das szenische Element zwar ein ganz klein wenig mit. Aber eigentlich komponiere ich eher «Hör-Musik». Der ideale Hör-Raum von einem Stück wie Windspiel wäre schon die CD. Im Konzert ist die visuelle Komponente, wie die semantische Komponente beim Text von Rappresentazione, nie vollkommen auszuschliessen. Aber ich beachte das beim Komponieren nicht besonders.
 
In «Zersplittert» und «Gitter», dem vierten Satz aus «Windspiel», erscheinen altmodische und verbrauchte Klang-Partikel, der Titel «Rappresentazione» weist in eine ferne Vergangenheit. Ab wann ist das Aufgreifen von Altem neu?

Wenn ein neuer Zusammenhang entsteht. Bei Gitter erscheint Pop-Musik wie ein Zitat, das keines ist. Ich berühre damit eine Sprachschicht, die dem Strassen-Slang ähnelt. Es hat auch mit dem Text zu tun: «Kohelet» ist auch ein ganz direktes, einfaches Ansprechen der Masse. Wie auf dem Marktplatz. Und es hängt auch mit meiner Vorliebe für «schlechte Musik» zusammen. Manchmal mag ich es, ganz einfach zu reden. Gleichzeitig bricht es die hohe Elaborationsstufe des Werks. Dieser Gegensatz zwischen ganz simpler und extrem komplexer Sprechweise: Das ist etwas, das mich auch an Bernd Alois Zimmermann sehr fasziniert. Bei Zersplittert ist es viel plakativer, brutaler.
 
Gegenwärtig arbeitest du an deinem ersten Orchesterwerk. Welchen Gründe, ausser einen Auftrag von Pro Helvetia zu erfüllen und Orchestermusiker mit uraufzuführenden Noten zu füttern, gibt es für dich, so etwas zu tun?

Das Orchester fasziniert mich. Nach all meinen Stücken für solistische Besetzungen habe ich einfach einmal Lust darauf, chorisch aus dem Vollen schöpfen und eine grössere Klangtiefe ausloten zu können. Ich werde das Orchester nicht umstellen, sondern ganz konventionell aufstellen lassen. Es ist für mich ein traditionelles Instrument, wie eine Geige oder ein Klavier. Damit möchte ich mich auseinandersetzen. Ich werde versuchen, meine Erfahrungen mit der elektronischen Musik einzubringen, um den Klangkörper so differenziert zu behandeln wie möglich. Als eine Art potenzierte Kammermusik. Aber ich habe noch keine Note komponiert.
 
Gibt es für dich eine typisch schweizerische Musik oder Art des Komponierens?

Das habe ich mir noch nie überlegt. Ich empfinde mich, ehrlich gesagt, als typisch deutschen Komponisten. In diesem Kulturkreis, mit Lachenmann, Rihm, Spahlinger und was sonst noch dazu gehört – auch Literatur –, fühle ich mich zuhause. Während meines Paris-Aufenthaltes konnte ich das zum Glück ein bisschen erweitern. Das Französische zieht mich an. Aber ich fühle mich dort nicht zuhause. (Pause. Überlegt.)
 
Und was ist mit dem Schweizerischen in der Musik?

(Lange Pause) Keine Ahnung.
 

 
PASSAGE – SATZ FÜR ORCHESTER (2003)

Nun ist das Orchesterstück fertig, das Lukas Langlotz im Gespräch vor knapp zwei Jahren projektiert hatte: Passage – Satz für Orchester (2003) gelangte am 21. März 2004 mit dem Orchestre de Chambre de Neuchâtel unter der Leitung von Jan Schultsz zur Uraufführung in Neuchâtel. Tatsächlich entspricht Langlotz im Aufgebot äusserer Mittel ganz den traditionellen Vorstellungen von Orchesterkomposition: Er verzichtet auf den Gebrauch von Sonderinstrumenten (wie auch auf Posaunen, Tuba und Schlagzeug), fordert keinerlei extravagante Spielpraktiken; die Partitur ist völlig herkömmlich notiert, ihr Vokabular ist nicht vom Himmel gefallen. Wiewohl Langlotz es sich nicht nehmen lässt, innerhalb dieser Vorgaben aus dem Vollen zu schöpfen, besitzt Passage nicht den aufdringlichen Charakter eines Opus summum. Frühere extreme Formen musikalischer Gestik (Riß, 1994) und der Zeitplanung (Windspiel, 1998-2000) nimmt der Komponist in seinem ersten Werk für Orchester etwas zurück, den Widerständen des grösseren Klangkörpers Rechnung tragend. Passage ist eine keineswegs utopische Komposition, die auch im Bewusstsein einer schöpferischen Erprobung eines Klangapparats entstanden ist.
Wie ist der Werktitel zu verstehen? Langlotz hält sich diesmal mit eigenen Erklärungen zurück und stattet seine Hörer mit zwei aussermusikalischen Hinweisen aus: Der grafischen Wiedergabe des Labyrinths auf dem Basler Leonardsplatz und dem Brunnenfall des Mädchens aus Grimms Märchen Frau Holle: «‹Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hole sie auch wieder herauf› [, sprach die Stiefmutter.] Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wusste nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die [verlorene blutige] Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selbst kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und vieltausend Blumen standen.» Beide Hinweise illustrieren spezifische Vorstellungen von Form, die Langlotz in seinem Werk realisiert hat: Das Labyrinth kennzeichnet die Verschlungenheit kompositorischer Pfade, die der Passagier ohne Bewusstsein über seine genaue Position im Ganzen bewandeln kann – möglicherweise meint Langlotz in diesem Vergleich auch seine eigene Arbeitsmethode. Dem Grimmschen Brunnenfall gleichen zahlreiche Passagen im Werk, die mehr oder weniger unvermittelt von einem Zustand in einen anderen führen. Ein wesentlicher Gestaltwechsel vollzieht sich von Takt 198 auf 199: Nachdem ein langer Entwicklungszug zum Initialklang (Takt 196) zurückfindet, kippt die Form vom gestischen Maximum ins Minimum, das sich bis ans Ende der Passage ausweitet. Hier vergegenwärtigt der Hörer allerdings keine märchenhafte Idylle, sondern ein zerschlissenes, mikrotonal angereichertes Klang-Band, das sich zum flackernden E-Dur-Akkord im Flageolett der Geigen und Bratschen verengt, der schon ganz zu Beginn anwesend ist und den kompositorischen Weg in Latenz durchzieht.
Die Form von Passage ist vieldeutig: Einerseits besitzt sie eine Dramaturgie in der Entwicklung, Abnutzung von Material, einen Weg, der durch verschiedenartige Klangaggregate hindurch führt; andererseits erfüllt sich dieser Weg nicht in formaler Tunnel-Perspektive, widerspricht der statische, nicht vorwärts treibende, beinahe hermetische Charakter vieler Teile der Entwicklungsidee – auch die Art der Zäsurierung verhindert, dass die Werkteile nur als Stationen auf einem linearen Hör-Gang aufgefasst werden. Die wesentlichen Zeiterfahrungen, die Langlotz in seiner bisherigen kompositorischen Arbeit gemacht hat – der Drang einer von Subjekt-Zeit unmittelbar diktierten musikalischen Äusserung (Riß, Zersplittert) wie ihre planvolle Entrichtung in Abstinenz spontaner Reaktionsweisen (Vacua, Windspiel) – , wirken sich aus. Dieser formalen Vieldeutigkeit entspricht der brüchige Charakter vieler Einzelgestalten, die Vorliebe für die Artikulation einer aus Spaltklängen gewonnenen Harmonik. Zu besonders überzeugenden Erfindungen gelangt Langlotz im Bereich der fahlen, nächtigen Klanggebung. Insgesamt schleicht der Orchesterneuling allerdings nicht zögerlich um sein Ensemble, packt es zumal in den Zentral-Teilen der Passage – etwa in einer multi-metrischen Ostinato-Passage (Takt 106ff.) – direkt und hart an. In diesem Projekt hat der Komponist den Rahmen des Möglichen schön ausgeschöpft – wobei die Fülle der Charaktere, die formale Komplexitätkeineswegs einer überladenen Schreibweise geschuldet ist. Es entsteht der Wunsch, den Reichtum der Partitur nach der erfolgreichen Uraufführung nochmals erleben zu können.

 

 
BIOGRAPHIE UND WERKVERZEICHNIS

Lukas Langlotz wurde 1971 in Basel geboren. An der dortigen Musikhochschule studierte er Klavier (bei Jean-Jacques Dünki), Dirigieren (bei Wilfried Boettcher sowie Manfred Honeck) und Komposition (bei Rudolf Kelterborn). Zwischen 1996 und 1997 setzte er seine Studien in Paris fort (Komposition bei Betsy Jolas, Kurs am IRCAM). Wichtige Einflüsse erhielt er durch den Komponisten Gösta Neuwirth.
Seine Werke sind Auftragskompositionen bedeutender Institutionen und Ensembles für zeitgenössische Musik (Pro Helvetia, ensemble für neue musik zürich, Europäischer Musikmonat Basel, Musikkreditkommission Basel-Stadt u.a.) und werden im In-und Ausland aufgeführt (unter anderem an den Festivals «Music Exchange» in Sofia, «Lange Nacht der neuen Klänge» in Wien, «Internationale Ferienkurse» in Darmstadt). Langlotz unterrichtet an der AMS Muttenz und an der Musikhochschule Basel und gibt Konzerte als Dirigent und Pianist. Er lebt in Basel.
 
* Riss. Satz für Ensemble (1994)
* Champs changeants. Klavierstück (1994)
* Musik für Ensemble (1994-96…; ohne Titel; unvollendet)
* Illusion für Violine und Klavier (1995)
* Zersplittert. Traumsequenzen für Sprecher und Ensemble (1996; Text: Francisco Tanzer)
* Champs changeants, Fassung für 10 Bläser (1996)
* Fixierungen. Sextett (1997)
* Lose Blätter für Flöte und Cembalo (1997)
* Facetten. Revidierte Fassung von Lose Blätter (1997)
* Und die Erde war wüst und leer für Piccolo, Viola und Harfe (1997/98)
* Vacua. Revidierte Fassung von Und die Erde war wüst und leer (1997/98)
* Windspiel. Kohelet-Betrachtungen für Sopran, Ensemble und Zuspielbänder (1998-2000)
* IN. Ritual für Tenorsaxophon, Horn, Posaune und Klavier (2000)
* Hevel. Septett für Bassklarinette, Cello, Kontrabass und vier Lautsprecher (2000/01)
* Rappresentazione. Trio für Bariton, Alt-(Bass-)flöte und Schlagzeug (2002)
* Praeludium. Duo für Blockflöte und Violine (2002)
* Praeludium. Fassung für Blockflöte, Violine und Live-Elektronik (2002)
* Passage. Satz für Orchester (2002/03)